Christian Gasser soll leben

Gelegentlich, wenn ich im Kreise meiner Jünger und Gespielinnen sitze, hebt sich eine schüchterne Hand. Auf mein ermutigendes Nicken hin fällt sodann die Frage, wie es zu den fein gedrechselten Texten kommt, die ich der Welt bisweilen zur Lektüre zu schenken geruhe. Dann lasse ich meinen Blick über meine Schüler und Schülerinnen schweifen, und Freund der Jugend, der ich bin, lasse ich sie teilhaben am Reichtum von Erinnerungen und Erfahrungen, die ich sorgfältig sammele und aufbewahre.

„Wisst, ihr Lernbegierigen“, sage ich dann. „Viele dieser Texte verdanke ich schrecklichen Kollegen, gräßlichen Menschen oder schlimmen Ereignissen. Doch all dieser Schlechtigkeit wohnt immer auch ein Gutes inne, welches ich kraft meines Geistes in allem Seienden zu erkennen vermag, und welches mich hoffen und leben macht.“

„Doch kann es sein, Meister Korrupt, dass selbst das Schlechteste unter dem Seienden zu Gutem führt?“, fragt man mich sodann, und ich fühle in meinem Herzen, dass dem so ist, und mich darüberhinaus bemüßigt, eine Geschichte zu erzählen.

Einst war ich Student in Tübingen. Dort gibt es den Zatopek, und diesen habe ich von Herzen gern. Und so war ich auch bald ein wackerer Zatopeke, der dort ein wenig linke Kultur mitorganisierte. Eines Dienstagabends wollte uns das Schicksal eine Lesung Christian Gassers bescheren, an der ich viel Freude hatte. Später hingegen sollte ich erkennen, dass ich an diesem Abend zwar auf üble Weise missbraucht wurde, aber selbst das wendet sich heute zum Guten.

„Ja?“ werde ich gefragt, und antworte „Ja. Denn dieser Abend schien erst schön, dann diffamierte man mich zwar aufs übelste, doch heute keimt das Sandkorn zur Perle, die ich hier nun tippe. Nur muss ich mich eines weniger gestelzten Tonfalls bemühen, will ich nun alles berichten, wie es sich wirklich zugetragen hat.“ Und wenig Widerspruch ernte ich auf solche Ankündigungen.

Gasser schreibt zu allen möglichen Themen der Popkultur, und das auf durchaus erfrischende Art. Und einen kreativen Umgang mit der Wirklichkeit muss man Autoren zugestehen, weswegen Gasser auch leben soll und mitnichten erschossen werden. Auch wenn er sich nach entsprechenden Aufrufen geradezu zu sehnen scheint. Erschossen gehören indessen ganz andere Leute, aber dazu später.

Gasser las durchaus unterhaltsam und angenehm über Mixtapes, literarisch gab es keine Anlässe zur Fundamentalkritik, nur leidet Gasser an musikgeschmacklicher Verwirrung. „Seele brennt“ von den Neubauten als Running Gag für eine vermeintlich verkorkste Jugend heranzuziehen geht halt nicht. Und wenn ers doch tut, dann muss er als Popliterat damit rechnen, dass dies zu Reaktionen im Publikum führt. Die gab es, ich tauschte mich über diese verzeihliche Verfehlung durchaus mit Mitzatopeken aus. Leise.

Durchaus stürmischer fiel die Debatte aus, als er zur Umbaupause die Sisters heranzog: er hasse „Temple of Love“ inzwischen und nutze es zur Umbaupause, das sporne ihn zu schneller Arbeit an. Unter vier Minuten „Temple of Love“ habe er durch zügiges Vorgehen schon erreicht, er arbeite an weiterer Beschleunigung. Man muss dazusagen, er spielte nicht diese gräßliche Ophra-Haza-Version. Dass dies noch verständlich gewesen wäre, war Gegenstand einer weiteren Debatte, wohlgemerkt während der Umbaupause. Nach der ich mich bescheiden im Lauschen übte, bis dann dieser Tom-Jones-Zwischenfall kam, aber ich greife vor. Und sollte nun auch Gasser zu Wort kommen lassen, und wie er nun die Geschichte bisher darstellt.

„Dann gibt es noch eine dritte Kategorie von Lesungsflüsterern: Ebenso selbstgefällig wie mitteilungsbedürftig sind diese Flüsterer überzeugt, sie hätten etwas Bedeutsames zu verkünden. Dazu gehörte dieser junge Mann im Tübinger Zatopek. Er flüsterte und flüsterte, er hörte nicht auf zu flüstern, ich hob meine Stimme, er flüsterte lauter, ich spielte die meine „Bekenntnisse eines Pop-Besessenen“ illustrierende Musik lauter an, er flüsterte penetranter, und nach einigen Minuten, das Publikum wurde langsam unruhig, war mir klar: Dieser junge Mann wird nicht verstummen, ehe er vor dem Plenum seine Botschaft hat referieren dürfen. „Möchten Sie nicht“, ein möglichst lehrerhafter Ton, glaubte ich, würde in einer Studentenstadt auch den hartnäckigsten Lesungsrowdie gefügig machen, „möchten Sie nicht Ihre gewiss hochspannenden Ausführungen mit uns allen teilen?“ „

So Gasser in „An die Wand gestellt!„, und nun, gerne lasse ich Menschen an meinen Gedanken teilhaben, nur war, wie gesagt, die Vorgeschichte bis zur Teilhabe eine geringfügig andere.

Nach der Umbaupause untermalte Gasser seine Lesung gelegentlich regelmäßig ständig mit der unsäglichen Akustikkontamination „Sex Bomb“ von Tom Jones. Jedem Tierchen sein Pläsierchen, ich erwähnte an anderer Stelle bereits, dass ich geradezu zum Erbrechen tolerant bin. Die Gasser-Jonessche Eintracht gönne ich beiden von Herzen, ich muss weder lügen noch werde ich rot bei der Aussage, die zwei haben sich durchaus verdient. Auch, dass Gasser Jones lieber mag als Eldritch oder Bargeld, sei unbenommen, so ist das eben mit der Verschiedenheit der Geschmäcker, und auch Verirrungen wie selbige Gassers will mich nicht vom stetigen Bemühen abbringen, es weiterhin mit allen anderen auf diesem Planeten auszuhalten. Wacker voran!

Wenn allerdings Gasser öffentlich verkündet, dass Jones‘ „Sex Bomb“ nicht nur schlicht pubertätslaunischersweise eine Weile attraktiv schien, sondern de facto besser sei als manches Stück der Sisters oder der Neubauten, dann darf er sich nicht über Reaktionen wundern. Entweder hatte er bis dahin nie ein Publikum, welches die Bezeichnung „Publikum“ für eine popliterarische Lesung verdient, oder aber… nein, so muss es gewesen sein, andere Erklärungen gibt es nicht.

Tom Jones ist nun wirklich ein Brechmittel, darüber muss man sich ja nicht ernsthaft streiten, diese Aussage spielt ja in einer geradezu axiomatischen Liga. Was hingegen eine durchaus streitbare These ist: ob nun Hartmut Engler, Michael Schumacher und Roland Koch an die Wand gestellt werden müssen, wenn die Revolution kommt, oder ob man einen davon streichen kann und stattdessen Tom Jones nominieren sollte. Diese Frage erörterte ich mit einem Mitzatopeken. Woraus Gasser folgendes machte:

„…ich freute mich über seinen konstruktiven Beitrag zum Gelingen des Abends und wollte das Publikum schon bitten, ihn mit einem herzlichen Applaus für seine unterhaltsame Einlage zu belohnen, doch – „Wenn ich schon am Reden bin,“ fuhr er fort, ohne Atem zu holen, „gebe ich gerne die aktuelle Top 3 der Leute bekannt, die nach der Revolution an die Wand gestellt werden müssen: Hartmut Engler und Michael Schumacher bleiben gesetzt, Roland Koch hingegen, die bisherige Nummer drei, ist soeben verdrängt worden.“ Kleine Kunstpause zur Steigerung der Spannung. „Durch ihn da!“ Er wies auf mich. „Der gehört an die Wand gestellt“ etc.etc.
Und das nur, weil ich mich, wie er ausführte, erfrecht hatte, eine meiner früheren (und offenbar seiner heutigen) Lieblingsbands (Sisters of Mercy) mit einem spöttischen Kommentar zu würdigen und dafür mit meiner heimlichen Liebe zu Tom Jones‘ „Sex Bomb“ zu kokettieren.“

Christian, gestatte mir das revolutionäre Du: Sei mir nicht böse, aber du bist nun wirklich nicht bedeutend genug, um an die Wand gestellt zu werden, wenn die Revolution kommt.
„Was für eine Chance hat eine Revolution,“ überlegte ich noch etwas benommen und zögerlich, aber laut genug, um Gehör zu finden, „die sich hauptsächlich mit Michael Schumacher beschäftigt?“ schreibst du, aber um Himmels willen, was für eine Chance sollte erst eine Revolution haben, die sich mit dir beschäftigt?

Weswegen wir es mal lieber bei Schumacher, Koch und Engler belassen, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Jones hat gute Aussichten, Bono qualifizierte sich letztens ja auch, aber ich fürchte, du musst dafür noch ein ganzes Stück schlechter werden. Denn mich in Kurzgeschichten für die Edition Tiamat zu verbraten, das hat ja durchaus was lobenswertes, und wie gesagt, jemandem die dichterische Freiheit abzuerkennen, dabei bin ich wohl der letzte. Allenfalls schreib ich irgendwann dann eben mal, wie es wirklich war.

So beende ich meine Erzählung, und lasse wohlwollend den Blick über meine japsenden Yahoos schweifen. Und die erste und hübscheste unter ihnen fragt: „Meister, es ist nichts, aber sag uns, sorgst du dich nicht um diese doch nur teils verhüllten Aufforderungen, Leute an die Wand zu stellen? Bedenk den Abmahnirrsinn in diesem Internet, das vor Klagen schallt!“

Ich aber lächele und flüstere ihr ins Ohr: „Weisst du nicht, was der grosse Lenin zu den Deutschen und der Revolution sagte?“

Daraufhin schweigt sie still. Denn die Worte der großen Vordenker des Kommunismus nicht zu kennen, beliebe ich mit mindestens einer halben Stunde Strafschnullerlutschen zu ahnden. „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“, sprach Wladimir Iljitsch, und er hatte recht. Und dass jene Aufforderungen zur AndieWandstellerei hier in Deutschland vollkommen hypothetisch sind, leuchtet jedem wissenden Menschen ein.

„Ich wurde nicht hingerichtet, und nun sehe ich der Revolution gelassen entgegen“, endete Gasser seinen Bericht. Und dass selbst seine vorhergehenden Verleumdungen heute zu diesem schönen Text führten, lassen auch mich gelassen sein. Und mein Lächeln ist strahlend wie die Sterne.


Disclaimer. Den Strafschnuller hab ich bei der Spassguerilla geklaut. Schuhgröße 42 now! Vereinzelte Anspielungen auf Lem, Brecht, Crowley und natürlich Goldt sind nicht zufällig. Hintergrund ist in der Tat eine Autorenlesung im Zatopek, die Gasser zu einer zugegebenermassen hybschen Kurzgeschichte im oben verlinkten Sammelband bei Tiamat verfremdete.

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One Response to Christian Gasser soll leben

  1. missi sagt:

    Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob es so klug ist, dir auch noch filmischen Input zu geben. :)

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