…regen mich auf, und deswegen muss ich mein Versprechen von gestern gleich wieder brechen, aber das ist einem Bundestagswahlwochenende angemessen und Anlass zum kurzen Schwenk: geht morgen wählen, und geht Piraten wählen. Glaubt nicht der verlogenen Scheiße der etablierten Umfaller. Ende des Schlenkers.
Weshalb ich mich aufregte: wegen der Titelseite der heutigen Ruhrnachrichten. Da durfte ein wenig Prominenz und Promitrash zum besten geben, warum sie wählen gehen, und wenn man noch einen Grund sucht, nicht wählen zu gehen, dann hilft einem dieses Titelblatt tatsächlich. Denn wer morgen daheimbleibt, kommt schon nicht in die Verlegenheit, morgen an der Wahlurne möglicherweise dem „RWE-Vorsitzenden Jürgen Großmann“ zu begegnen, der grade sein „breites Kreuz für einen breiten Energiemix“ macht, wie er es mittig vom Ruhrnachrichten-Titelblatt interessenvertritt.
Ähnlich grauenhaft Dr. Robert Zollitsch, seine Zeichens Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz, der den Anschein erwecken will, dass seine Organisation mitnichten aufs direkteste dafür sorgt, dass in unserem ach so säkularen Staat die Kirchen weiter ungestraft gegen alles hetzen dürfen, was nicht in ihr bigottes Weltbild passt und sich dafür auch noch öffentlich alimentieren lassen. Will er doch mit der Wahl „gesellschaftliche Verantwortung und gestalterische Möglichkeit in der Demokratie* wahrnehmen“. Das machen er und seine Kumpane ja in irgend einer fernen, glücklichen Zukunft tatsächlich nur noch alle vier Jahre, aber bis dahin muss noch viel Wasser den Neckar runterlaufen und müssen noch einige Pfaffen aus den Beraterstäben, Gremien und Hinterzimmern geschmissen werden. Und von den Unis! Denn was die Ausbildung zum Kultführer an einer staatlich bezahlten, *wissenschaftlichen* Lehr- und Forschungsinstitution zu suchen hat, werd ich nie verstehen.
Wenn die „Fecht-Olympiameisterin Britta Heidemann“ zur Wahl geht, weil es ihrer Meinung nach „sehr wichtig ist, seine Stimme abzugeben“, dann weiß ich nicht, ob das eine dämliche Tautologie oder ein derbe cleverer Zynismus ist. Ich glaube ersteres, aber trotzdem, das hat was. Ulrike Folkerts tappt in dieselbe Falle mit ihrer Platitüde, dass Wählen schließlich „die einzige Chance ist, sich einzumischen“, und weil ich sie als Schauspielerin schätze, unterstelle ich mal kein unausgesprochenes „…denn nachdem ihr wählen wart, müsst ihr anschließend wieder vier Jahre die Fresse halten“. Dass man auch zwischen den Wahlen das Maul aufkriegt, ist bekanntermaßen wichtig, das nicht ganz zu kapieren, bringt erwartungsgemäß ein „Topmodel“ namens Sara Nuru fertig mit dem schönen Spruch „Viele beschweren sich, gehen aber nicht zur Wahl.“. Mit einem ausreichend beschränkten Horizont nimmt man das natürlich als Widerspruch wahr, aber das Mädel ist ja jung und lernt sicher noch dazu. Besser wissen sollte es Kabarettist Michael Mittermayer, der gleich mal sein „Wer nicht wählen geht, sollte das Maul halten. Aus, Ende der Geschichte“-Verdikt ausspricht, und das ist schon schreiend blöde. Zugegeben – wenn er statt „nicht“ jetzt „CDUCSUSPDFDPGrüne“ gesagt hat und statt „das Maul halten“ „aufs Maul kriegen“, also falls er das eigentlich ganz anders gesagt hat und der Lektor das Gesagte eben stillschweigend irgendwie „korrigierte“, dann will ich nichts gegen Mittermayer gesagt haben.
Es geht aber noch tiefer, „Wenn ich nicht wähle, wähle ich bestimmt verkehrt“, ließ man mit Jürgen Drews jemanden sagen, der praktisch immer das Verkehrte wählt, er muss eigentlich nur den Mund aufmachen oder den Kopf in die Kamera halten. Aus der musikalischen Ecke darf noch Silbermond-Sängerin Kloß salbadern, dass es wichtig sei, „eine demokratische Partei zu wählen“, vermutlich weil ihr Udo Lindenberg wie den Ruhrnachrichten erzählt hat, dass die „Demokratie ein dolles Geschenk der griechischen Götter und der Alliierten von 1949 ist“ und sie das irgendwie cool fand. Auch Lindenberg mag ich eine gewisse Subversivität nicht absprechen, sagt er doch recht unverblümt, dass die kleinen Deutschen die Demokratie halt irgendwie vom Onkel aus Übersee geschenkt gekriegt haben und jetzt etwas ratlos unterm Weihnachtsbaum stehen und Freude heucheln müssen. Wozu der Scheiß gut sein soll, wissen sie nicht so recht, und dass man den nicht geschenkt kriegt, sondern sich permanent erkämpfen muss, schon gar nicht. Das zeigt zu guter Letzt dann uns aller Biolek, der das Wählen „für eine Selbstverständlichkeit und Bürgerpflicht“ hält, und da wird dann alles wieder gut, rund und schön, denn deswegen geht man bekanntermaßen als ordentlicher Deutscher wählen: weils einen die Obrigkeit eben so geheißen hat. Und wenn die einen was anheißt, dann springt man, aber hoppla!
Das waren jetzt nicht alle zwölf, aber der Rest ist nicht besser. Und wenn ich dieser geballten Masse an Blödheit und Platitüdenabsonderei etwas positives abgewinnen will, dann dies: Selbst solchen Schwachsinn hält eine Demokratie aus. Sogar auf der Titelseite einer größeren Zeitung.
*ich tippfhelerte anfangs „Domokratie“ und stellte beim Korrigieren fest, dass es fast ein wenig schade drum ist.
Ich sehe das ganz anders als Du – ich persönlich finde es gut, dass die Medien zur Wahl aufrufen. Ob man die Inhalte dann alle gut heißt ist eine andere Sache, aber grundsätzlich finde ich es gut.
Medien, die zumal als konkurrierende Unternehmen agieren, die zur Wahlteilnahme aufrufen, aber vor einer konkreten Empfehlung zurückschrecken, sind peinlich. Wollte ich so wählen, wie sie (nicht-)empfehlen, müßte ich ein parteiübergreifendes Kreuz machen, also ungültig wählen. Aber ich hätte das gute Gefühl, doch alles richtig gemacht zu haben.
Irgwendwo hörte ich – ganz in diesem Sinne – auch eine Prominente, die zu mir sprach, was oder wen ich wähle, das sei gleichgültig, aber wählen sollte ich schon gehen. Weshalb angesichts solcher Bedeutungslosigkeit meiner möglichen Wahlentscheidung Nichtwählen falsch sein sollte, erschließt sich mir nicht mehr.
Was spricht dagegen, nicht zu wählen, wenn mir keines der Angebote paßt oder es vermag, mir wenigstens irgendwie sympathisch zu scheinen? Stimmen, die für („Ein-Thema“-)Parteien abgegeben werden, die voraussichtlich scheitern werden, sind doch auch verlorene Stimmen, finden – gewollt – keine Beachtung.
Und schaue ich mir an, was zu sehr klaren Fragen Kandidaten, die Individuen sein wollen, erklären, nämlich das, was ihnen die jeweilige Parteizentrale (*) vorformulierte, dann fühle ich so gar keine Lust auch nur einer dieser Sprechpuppen die Erststimme zu opfern.
Roger Behrens hat in der Jungle World dem korrupt und diesem Thema übrigens einen schönen Beitrag gewidmet ;-) :
(*) Sehr fein scheint mir beispielsweise diese Bewerbungsschrift eines gewiß nur seinem Gewissen Verpflichteten:
Jens: gegen einen Wahlaufruf als solchen hab ich ueberhaupt nichts. Ich hab was gegen die geballte Bloedheit und die verlogene Mischung von Nullaussagen, Heuchelei und Eigenlobbyismus, die einem da entgegenkommt. Wenn man das Elend der Demokratie in Deutschland in Bilder und Saetze fassen wollte, dann koennte man das mit diesem einen Titelblatt problemlos. Dass Demokratie ein Gut ist, dass man auch *gegen* die gewaehlten Vertreter verteidigen muss, dass sie insbesondere von politischer Partizipation *jenseits* der Wahlen lebt, kein Ton davon, nur eben eine Reihe von Leerformeln zum Stimmeabgeben und Klappehalten zuzueglich die schoenen Phrasen der Interessensvertreter, die ihre Meinungsabsonderer schon auf den Listenplaetzen haben. Was tw_24 ja auch schoen beschrieben hat. Der jW-Artikel ist fein.