Vorweg: das Netz ist ein hochspannendes Ding, ich muss nur anlässlich mspr0s letztem Blödsinn streitbarem Post ein paar Sachen geraderücken. Das ist automatisch etwas überspitzt, wer das nicht mag: man kann mich auch das Netz sozialwissenschaftlich hinterfüttert lobpreisen lesen. Für alle anderen: ein paar Gründe, warum man aus geisteswissenschaftlicher Perspektive auf den ersten Blick weniger im und zum Netz sieht, als man vielleicht erwartet oder erhofft, und ein paar streitbare Thesen, um die Netzpropheten, Postneozweiteegal-Verkünder und Konsorten mal wieder auf den Boden zu holen. Das Netz ist aus den meisten sozial- und geisteswissenschaftlichen Perspektiven eine Rahmenbedingung und damit nicht im Fokus, ich meine, zurecht. Weiter sind die sozialrevolutionären Aspekte oftmals höchst eingeschränkt bzw. halten einer empirischen Überprüfung (noch) nicht stand. Zuletzt ist die Grundannahme, Geisteswissenschaften finden im Netz kaum statt, schlicht Blödsinn. Sie sind nicht unbedingt in Google indexiert, und dass ich „alten Hasen“ erklären muss, dass WWW != Netz, das ist schon ein wenig hart. Aber von vorn und ausführlich.
1. Das Netz ist als großtechnisches System in den meisten Perspektiven (triviale) Rahmenbedingung
Wenn mich jemand fragt, was eine der unterschätztesten technologischen Umwälzungen der Neuzeit ist, dann würde ich sagen, der individuelle Personennahverkehr und der ÖPNV. Schon allein, weil der Verkehr als großtechnisches System extrem weit in sehr vielen gesellschaftlichen Bereichen eingebunden und verzahnt ist, zum nächsten, weil er typische Phänomene der Moderne wie Urbanisierung erst ermöglicht hat und dadurch immense indirekte Folgen auf die Lebensgestaltung und die lebensumfelder hat, begonnen von ökonomischen und kulturellen Zentren bis hin zu den Schlafdörfern und Vorstädten. Man kanns selber ein wenig weiterspinnen, es hängt verdammt viel dran. Dennoch beschäftigen sich denkbar wenige sozialwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche etc. Studien spezifisch mit den segens- und fluchreichen Auswirkungen des ÖPNV, schlicht, weil dieser zu einer selbstverständlich vorausgesetzten Rahmenbedingung praktisch aller gesellschaftlichen Strukturen und Phänomene wurde. Das entwertet ihn mitnichten, man kann sich den Spass machen und zu unterschiedlichsten Themenbereichen durchdeklinieren, welchen Einfluss bzw. welche Schlüsselrolle in ihrem Zustandekommen das Phänomen Individualverkehr hat, aber man kanns in den meisten Fällen einfach auch weglassen, weils keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringt. Mit dem Netz verhält es sich ebenso. mspr0 lässt anklingen, dass die rasant angestiegene gesellschaftliche Relevanz des Internet keine Entsprechung bei der Thematisierung in der Geisteswissenschaft finde. Meine starke These:
Eben weil das Netz immer weitere Gesellschaftsbereiche immer stärker durchzieht, muss es immer weniger als expliziter Untersuchungsgegenstand thematisiert werden.
Das ist in meinen Augen vollkommen in Ordnung und simple Anwendung Ockhams.
2. Das Netz revolutioniert seltenst, es beschleunigt
Nebenan klang Ulrich Beck als Prototyp des sozialwissenschaftlichen Dampfplauderers bereits an, er ist nicht der einzige, der sich regelmäßig darin versucht, einen qualitativen Entwicklungssprung der Moderne zu konstatieren und sich damit als Begriffspräger einen Vordenkernamen zu machen. Traurigerweise ist das Netz in den seltensten Fällen eine qualitative Sprungfeder, in der Regel sind „Netzphänomene“ Beschleunigungsprozesse.
Das fällt einem nicht auf, wenn man sich grade an den frisch dahinkonstruierten demokratisierenden Potentiale des Internet am Beispiel des arabischen Aufbruchs besoffen geredet hat, auch wenn dort wie woanders gelegentlich die Verwunderung darob zu beobachten ist, dass sich was tut, obwohl niemand sein Twitter-Avatar ändern musste. Fakt ist, dass die meisten Strukturen, die das Netz eben *beschleunigt*, in der einen oder anderen Form auch vorher zur Verfügung standen, nur eben weniger verbreitet und weniger schnell. Aber eine Medienöffentlichkeit gabs auch schon vor TCP/IP und, man glaubt es kaum, Gegenöffentlichkeiten wurden auch schon mit Flugblättern, Untergrundzeitungen, Radiosendern und wasweissichnoch geschaffen. Zweifellos wird vieles effizienter, leichter, besser erreich- und nutzbar, die tatsächlichen „Quantensprünge“ sind indessen schwer zu finden, da stellt sich eben oft genug heraus, dass der Diskurs mit der lokalen Ortsgruppe der politischen Richtung der Wahl meist nicht mehr und nicht weniger fruchtbar ist als der, den man jetzt eben landes-, sprach- oder weltweit führen kann, da die Intelligenz dann doch irgendwie normalverteilt ist. Nebenan wurde (ausgerechnet!) die Small World Theory als „nun praktisch prüfbares“ Theorem angeführt, ja meine, Güte, als ob es irgend eine Rolle spielt, ob ich Charles Manson über den Cousin des Saufkumpans des Schwagers des Botschafters kenne, der den Taxifahrer des Zellenwärters mal von weitem gesehen hat, oder ob das irgendwelche Netzbekanntschaften von Netzbekanntschaften von wasauchimmer sind, die mir ab der dritten Ecke ähnlich scheißegal sind.
3. Das offene Netz ist für den (geistes)wissenschaftlichen Diskurs ungeeignet
Man siehts an den Kommentaren nebenan, insbesondere beim (von mir ansonsten durchaus geschätzten) mspr0 selbst, der sich nicht entblödet, Ansätze einer sozialwissenschaftlichen Begriffskläruing in den Kommentaren gleich als „Putzigkeit“ abzubügeln. Ich werd den Teufel tun und ernsthafte sozialwissenschaftliche Diskussion auf einem öffentlichen Netz- oder Webformat zu betreiben, schlicht, weil da zu viele Idioten unterwegs sind. Man betreibt Wissenschaft auch in der Regel in einem entsprechenden (zugangsbeschränkten!) institutionellen Diskurs und nicht in der Fußgängerzone mit irgendwelchen dahergelaufenen Deppen, die meinen, ihren Senf dazugeben zu können. Wem das zu elitär ist – sorry, nicht mein Problem, lernt damit zu leben. Das Netz als emanzipatorische Medientechnik bedeutet nicht automatisch, dass ich jeden Kommentartroll als vollwertigen oder gar nur ansatzweise nützlichen Diskursteilnehmer ernstnehmen muss. Im Gegenteil kann ich hier wie woanders auf dieselben in der Regel bestens verzichten, ja *muss* ich sogar, will ich einigermassen produktiv bleiben.
Deswegen hat sich der wissenschaftliche Diskurs eben auch in meist geschlossenen oder wenig öffentlich sichtbaren Kreisen gebildet. Ich sag nur Mailinglisten, ich hab einige gelesen, auf einigen diskutiert und einige auch wieder abbestellt, und kann damals wie heute sagen, dass es ein meist funktionierender Diskurskanal ist. Ich wage gar die Prognose, dass das so bleiben wird, denn als Wissenschaftler hat man ein Interesse an den Inhalten seiner Arbeit und nicht an der Plattformmode. Metadiskussion gibts schon genug, da muss man nicht von der ML aufs Blog auf Myspace auf Facebook auf Google+ auf whatthefuckever umziehen. Wers tut, ist bekloppt und sollte sich das mit der Wissenschaft nochmal überlegen.
Man kanns weitertreiben mit der Ranterei, aber ich denk, da ist jetzt mal genug zusammengetragen. Der Vollständigkeit halber noch Link zum Kurzkommentar nebenan und vielleicht kommt auch beim ichschwoersdirblog noch was rum, aber ansonsten mag ich zum Schluss einfach sagen: man schämt sich zwar auch ein bisschen fremd für den Mit-Sozialwissenschaftler nebenan, aber auf der anderen Seite hat er ein Händchen dafür, mich zum Absondern von Gedanken anzuregen, ich hoffe, von klugen. Danke dafür ;o)
One Response to Internet: Aus geisteswissenschaftlicher Sicht leider langweilig