Tendenziell zufällig trafen wir heute auf eine LGBT-Pride-Vordemonstration in Istanbul und stiefelten prompt mit. „Vordemonstration“, weil der eigentliche Pride Day ist erst in einer Woche. Dafür wars aber klasse – ich tippe auf um die 1000 Leute, die (wahrscheinlich vom Taksimplatz aus) die Istiklal bis Tünel marschierten und trommelten, tanzten und Freude hatten. Verglichen mit Deutschland-CSDs mit erheblich niedrigerem Altersdurchschnitt – was an der Stadt liegt, da ist meines Wissens nach nach wie vor die Hälfte der Wohnbevölkerung unter 30.
Das mit dem Spass und Freude haben ist nicht ganz selbstverständlich, wie wir uns von einigen der Teilnehmenden erzählen ließen. In anderem Kontext stieß ich letztens auf den Wissenbloggt-Text von 2011, wo die Rede davon ist, dass seit Erdogan und dem Aufstieg auch der Nurculuk/Fetullah-Gülen-Bewegung die Situation eher wieder angespannter wurde.
Die Nurci hatte ich als tendenziell toleranter im Hinterkopf, aber es mag an einschlägigen gulli:board-Diskussionen liegen, wo ich vor Jahren eine etwas längere Diskussion zum Thema führte. Ich schweife ab.
Die LGBT-Bewegung ist in Istanbul, vom grade bekommenen Eindruck her, definitiv angekommen, der kommende Gay Pride sei der vierte und die gefühlte Sicherheit mit den Jahren eher gestiegen. Eine der etwas exponierteren Aktivistinnen sagte uns anschließend, dass sie jetzt natürlich Angst habe, andere wiederum, dass sie sich insbesondere heute gar keine Sorgen machen würden. Es gebe noch Gewalt gegen LGBT, aber tendenziell wirds besser.
Ich kanns nicht beurteilen, mein Eindruck heute war ein sehr positiver – glückliche Menschen auf der Straße, die meist alles andere als verängstigt wirkten, und – was ich für eher noch bedeutender halte – freundliche, fröhliche, amüsierte, neugierige Blicke vom Publikum. Klar – wir reden grade von der Flaniermeile im Herzen Istanbuls, und da ist kein Ton davon gesagt, wie das ganze in Fatih aussieht oder meinetwegen in Bursa oder sonstwo, aber allein, dass es wohl doch vorangeht, dass so viele „out“ und damit glücklich sind, ich finds großartig.
Spannend auch (und AFAIK ohne Äquivalent in .de) – die doch recht deutliche Präsenz der Anarchisten. Einige Gruppen von ihnen seien hier auch mit dabei, klar gebe es auch personell Überschneidungen, aber es sei insbesondere eine Soligeschichte, man unterstütze sich da bei gemeinsamen Zielen gerne und gegenseitig. Ich finde das höchst begrüßenswert und sympathisch und zöge auf kommenden CSDs in Deutschland jederzeit einen solidarischen schwarzen Block Veranstaltungen wie LSU und HuK vor. Aber nun, nicht meine Sache. Am Rande: Schild nebenan sagt ursprünglich aus, dass man Gesetze machen muss, die Genderidentitäten berücksichtigen. Die durchgestrichen/korrigierte Lesart weist darauf hin, dass man gar keine Gesetze machen, sondern einfach ficken sollte.
Mir machts – wie oft in dem Bereich – Mut. Es geht an der einen oder anderen Ecke was in eine gute und richtige Richtung, auch und grade in Istanbul.