Die Bürde der ungewaschenen Masse und ihrer Probleme

Ein „Schreib doch eine Kritik an 12-Schritte-Programmen in der Suchtselbsthilfe aus anarchistischer Perspektive für ein Zine“ hatte ich nicht auf meiner Bingokarte für 2024, aber oh boy, was hatte ich alles nicht auf meiner Bingokarte für 2024. Als besagter Call for Input an mir vorbeirauschte, fühlte ich mich aus Gründen angesprochen und fand auch die Fragestellung durchaus interessant. Das Zine gibts – bislang englisch – nebenan bei der Scrappy Cappy Distro, und nein, ich bin beileibe nicht mit allem einverstanden, was dort steht, aber hab durchaus ein Plätzchen in meinem Herz meiner Mördergrube für den Anarchismus.

That being said, hier eine Kritik an 12-Schritte-Programmen in der Suchtselbsthilfe aus anarchistischer Perspektive mit dem Titel „Die Bürde der ungewaschenen Masse und ihrer Probleme“. Der ist aufgehängt an einer Textstelle aus „Anarchy and Alcohol“, die mir gefiel („As in every case, we anarchists must ask ourselves: do we take our positions simply to feel superior to the unwashed (er, washed) masses — or because we sincerely want to propagate accessible alternatives?“ ), der (lesenswerte!) Text enthielt weiterhin die streitbare (und von mir nicht geteilte) These, die folgend demnächst zitiert wird und Teil des Aufrufs zum Beitragseinreichen war. Und nu zum Text.

Korrupt hier
, kein bekennender Anarchist, aber voller Sympathie für entsprechende Ziele, weiter Alkoholiker/Polytox und (u.a. dank NA) seit um die 17 Jahre nicht konsumierend.

„Anarchistische Alternativen zu Anonyme Alkoholiker:innen“ ist inspiriert von folgender Textzeile aus „Anarchy and Alcohol“:

„Anonyme Alkoholiker:innen… ist nur ein weiteres Beispiel für eine quasi-religiöse Organisation, die ein soziales Bedürfnis befriedigt, das bereits durch die Selbstorganisation einer anarchistischen Gemeinschaft abgedeckt werden sollte.“

Die Überschrift dieses Aufsatzes ist wiederum inspiriert von der Fortsetzung der Textstelle, diese lautet grob übersetzt:

„Wie überall, müssen wir Anarchisten uns fragen: vertreten wir unsere Positionen nur, um uns den ungewaschenen (naja, gewaschenen) Massen gegenüber besser zu fühlen – oder weil wir tatsächlich zugängliche Alternativen bieten wollen? Überhaupt, die meisten von uns, die unter keiner Substanzabhängigkeit leiden, können dankbar sein für Privilegien und Glück; das erlegt uns eine Verantwortung für diejenigen auf, die nicht so privilegiert und glücklich waren – oder wie auch immer sie das bezeichnen.“

Naheliegende Fragen
sind
– kann man diese Verantwortung tragen?, und
– sollte man das tun?

Bevor man diese beantwortet, sollte klar sein, was AA/NA jeweils leisten und welche Mittel sie dafür nutzen, was man wiederum als Teil eines anarchistischen Kollektivs leisten kann, welche Mittel man dafür einzusetzen gewillt ist und ob unter diesen Umständen den Betroffenen adäquat oder besser geholfen werden kann.

Selbsthilfe nach Muster AA/NA funktioniert, weil man mit Menschen in genau derselben Situation und im gleichen Kampf zusammenkommt, weil nichts kritisiert/kommentiert wird sowie – und jetzt wird es schwierig – weil man sich selbst konditioniert. Das ist eine große Keule, und man sollte sie nicht leichtfertig gegen sich schwingen, aber der Gegner ist eine Suchtkrankheit. Man sollte nicht ohne schweres Gerät gegen sie antreten, denn das wird nicht funktionieren und weiteren Schaden anrichten.
(Sie funktioniert außerdem nicht zuletzt deshalb, weil sie anonym ist, und das ist ein Anspruch, den ein anarchistisches Kollektiv nur schwerlich an sich stellen kann. Aber das nur am Rande.)

Es gibt Gründe für funktionale Ausdifferenzierungen in der Gesellschaft, und nicht jede Aufgabe kann von beliebigen Akteuren mit gutem Willen ausgefüllt werden. Der Beitrag eines anarchistischen Kollektivs im Kontext Sucht muss aber kein kleiner oder randständiger sein. Er kann eine große Rolle dahingehend spielen, dass das eigene Sein und Tun als bedeutungsvoll wahrgenommen wird und so typische Grundursachen für Sucht und Sedierung gar nicht erst entstehen. Ein Kollektiv kann das mit dem Cleanwerden einhergehende Übernehmen von Selbstverantwortung unterstützen. Es kann helfen beim Ertragen von Phasen, in denen die bisher durch Suchtmittel erträglichen/attraktiven Tätigkeiten schlechter auszuhalten sind oder schlicht wegfallen. Es kann selbstredend auch helfen beim Vermeiden von Triggersituationen und Suchtdruck, aber bereits da wird es schon schwierig: Süchtige können sich nicht auf ein solches Umfeld verlassen und sie sollten darauf auch nicht angewiesen sein, denn sowohl Trigger und Suchtdruck werden früher oder später stattfinden und wollen ausgehalten werden.

Über die Grenzen des Leistbaren hinaus sind wir bei der Anforderung, ein Kollektiv müsse eine analoge Gruppe von Suchtbetroffenen anbieten können, die sich austauschen und gegenseitig helfen können, clean zu bleiben. Schon die existierenden „gesamtgesellschaftlichen Strukturen“ stoßen regional an Grenzen: nicht immer ist eine NA-Gruppe leicht erreichbar, und neben urbanen Ballungszentren, wo im Bedarfsfall praktisch jeden Abend ein Treffen in Reichweite ist, gibt es auch Regionen, wo die einzige Möglichkeit einmal pro Woche stattfindet, und das nicht als selbstorganisierte 12-Schritte-Gruppe, sondern in Trägerschaft von beispielsweise Diakonie oder Kreuzbund.

Es gibt das Bonmot über Suchtselbsthilfegruppen, dass ihre Wirksamkeit bei einschlägig sozialwissenschaftlich oder psychologisch vorgebildeten Menschen nachlässt, weil diese die angewendeten Methoden durchschauen. Privat neige ich zur These, dass man diese Methoden durchschauen kann und soll, und dafür auch nur wenig entsprechende Vorbildung notwendig ist. Sie funktionieren aber trotzdem. Ein großer Teil der Kommunikation in 12-Schritte-Gruppen besteht in wechselseitiger Veranschaulichung und Rückversicherung, dass es möglich ist, der Sucht zu widerstehen. Das auch unter erschwerten Umständen, und im Zweifelsfall „nur für heute“. Er besteht in der kontinuierlichen praktischen Demonstration, dass andere es auch schaffen, unter mal einfacheren, mal schwierigeren bis katastrophalen Umständen. Er besteht auch in der Darstellung der Folgen des Konsums, aber bereits das ist nicht mehr „institutionalisierte Kommunikation“, sondern wird nach Belieben von Süchtigen thematisiert oder nicht. Austauschformate und Rituale sind auf diese Formen der wechselseitigen Rückversicherung der Süchtigen ausgelegt. Ich nenne das einigermaßen direkt „Selbstkonditionierung“, über die Begrifflichkeit mag man streiten, aber eine Sucht ist ebenso zu einem guten Teil ein erkrankungsbedingtes Handeln, das jenseits von rational angestrebten Zielen stattfindet und ebenso jenseits des rationalen Handelns abgestellt werden muss. Die bei NA/AA stattfindende Selbstkonditionierung ist eine funktionierende Option. Die rationale Einsicht, dass die Sucht ein folgenschweres, ja nicht mehr erträgliches Problem ist, ist hingegen zwar eine Voraussetzung für ein erfolgreiches Cleanwerden, aber nicht der Weg dorthin. Wenn wir annehmen, dass das Setting der 12-Schritte-Programme tatsächlich funktioniert und aus den genannten Gründen funktioniert, dann ist es qua definitionem durch eine Gruppe überwiegend Nichtsüchtiger schlicht nicht ersetzbar, ungeachtet allen guten Willens und aller Reflexion.

An der Stelle könnte man die beiden eingangs gestellten Fragen beantworten, ob man die Verantwortung diesbezüglich übernehmen kann bzw. soll: es ist bestenfalls schwierig und ein höchst unsicheres Setting für alle Beteilgten, und man sollte es lassen, wenn es die Alternativen aus der Suchtselbsthilfe gibt.

Bedeutet das ein Scheitern des Kollektivs bei einer eigentlich von ihm zu leistenden Aufgabe, ist der Besuch einer 12-Schritte-Gruppe gar ein Misstrauensvotum gegenüber der eigenen Community? Das Eingangszitat deutet zumindest in die Richtung, und damit bewegen wir uns auf dünnes Eis. Schlimmstenfalls nehmen Menschen ein potentiell hilfreiches Angebot in einer Notsituation nicht an, weil – zugespitzt – in ein paar Texten der Organisationen von einer „Macht, größer als man selbst“ oder gar einem „Gott“ die Rede ist. Nun ist es glücklicherweise allen selbst überlassen, sich zu dem Begriff zu denken, was auch immer beliebt. Eine „Macht, die größer ist als man selbst“ kann alles sein, auch eine anarchistische oder „nur“ süchtige Gemeinschaft.

Weiter gehört zum Übernehmen von Verantwortung sowohl für sich als auch für andere das Wissen darum, was man selbst oder in der Gruppe zu leisten imstande ist und was nicht. Typische Wege aus der Sucht beinhalten eine Problemansprache aus Familien- und/oder Freundeskreis, die auf zumindest ansatzweise vorhandenes subjektives Problembewusstsein stößt. Der anschließende Weg aus der Sucht findet jedoch regelmäßig nicht mehr schwerpunktmäßig in besagtem Familien- und Freundeskreis statt, weil dieser das schlicht nicht leisten kann, vielmehr schlimmstenfalls durch Folgeprobleme wie Co-Abhängigkeit weiter in Mitleidenschaft gezogen wird.

Aus dieser Perspektive neige ich dazu, das Eingangszitat als ein einzelnes, bedauerliches Übers-Ziel-Hinausschießen in einer ansonsten höchst erfreulichen Polemik gegen eine Drogenkultur zu betrachten, die oft genug aus Herrschaftsstrukturen heraus gebildet und entwickelt wird und gegen die man sich gerne stellt.

Aber blasphemisch gefragt: Steht das Cleanwerden von Süchtigen in einer NA-Gruppe der Maxime des Anarchismus („Die Autonomie für alle zum Nachteil von niemandem schaffen“) grundsätzlich entgegen? (spontan geantwortet: „eher nicht.“) Deutet die Notwendigkeit von NA-Gruppen auf ein Versagen des Anarchismus hin? (Schwieriger, aber „nein, vielleicht sogar im Gegenteil“.) Das „…im Gegenteil“ ist ein schmales Brett, aber solange süchtige Anarchisten auf die Süchtigen der Mehrheitsgesellschaft angewiesen sind, um ausreichend große und verfügbare Selbsthilfestrukturen aus Süchtigen zu schaffen, ist das erst mal ein gutes Zeichen.

Ich bin recht sicher, dass Gedanken wie „Ich will mit dem Kampf gegen meine Sucht meine eigene Autonomie stärken“ oder „Ich will die Nachteile für andere durch mein drogeninduziertes Handeln auf Null zurückfahren“ in jeder beliebigen NA-Gruppe zu beifälligem Nicken (und gemäß den Regeln keinem Kommentar) führen werden. Man darf sich diese Ziele vornehmen, man darf und soll zu ihnen stehen, auch und gerade in einer ansonsten politisch heterogenen Gruppe von Süchtigen, die clean bleiben wollen. Es wird allen Beteiligten helfen.

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