Letzte Woche war ich mal wieder im Süden und durfte eine deutlich überarbeitete Fassung meines Vortrags zu Pornmarketing auf einer Pädagogik-Fachtagung halten. „Virtuell, experimentell, riskant…? Sexuelle Sozialisation zwischen Medienkompetenz und Überforderung“ war das Motto, und der Einstieg mit Julia von Weiler von Innocence in Danger etwas, nun „kritischer“ als vor zwei Jahren. Und einmal mehr: ich hab ne Menge gelernt.
Genereller Eindruck und Learnings, grundsätzliche Ist-Situation: weitgehend eine Bestätigung des schon damals festgestellten Trends. Pädagogen gelassen, die Jugend verdirbt nicht. Trotz tendenziell weiter erleichtertem Zugang zu Onlinepornografie jeglicher Couleur, nach wie vor kaum durchsetzbaren Zugangskontrollen etc. sind die einschlägigen Entwicklungen erfreulich: ungewollte Schwangerschaften und sexuell übertragbare Krankheiten bei Jugendlichen rückläufig, Orientierungen großflächig auf Bindung/Partnerschaft ausgerichtet, von den gern befürchteten Trends zur sexuellen Verwahrlosung einer Jugend, die mit dem Internet schädlichen Medien in beispiellosem Maß schutzlos ausgeliefert ist, nichts zu sehen. Im übrigen seien auch die Fallzahlen einschlägiger Kriminaldelikte gleichbleibend bis rückläufig.
Interessant wirds dann aber, wenn man sich nicht bequem zurücklehnt, sondern guckt, was eigentlich die Probleme/Situationen in der Praxis sind. Damit mal zu den verschiedenen Fachexperten bzw. Workshops, die ich mitbekommen hatte. Das nun alles in etwas ausführlicher.
Die Frau Julia von Weiler. Ich hatte ein „Oha“-Gefühl, als ich von ihrem Einführungsvortrag im Programm erfuhr, Innocence in Danger hatte einen gelinde gesagt schlechten Start in die deutsche Netzöffentlichkeit, das damals weitgehend von tieferem Fachwissen unbelastete Fordern von Netzsperren und Vorratsdatenspeicherung ist heute allenfalls leiser, die VDS steht immer noch auf der Agenda, und nun, ich merk ja selber, dass ich zum irrationalen und vorurteilsinduzierten Nichtgutfinden neige, wenn viel deutscher Adel sich plötzlich in einem Kinderschutzverein organisiert. Ich ging mit dem festen Vorsatz hin, da ergebnisoffen und aufgeschlossen zu sein und hatte auch ein durchaus angenehmes und konstruktives Gespräch. Allein, mir behagt es nach wie vor nicht.
Das hat viel mit dem Alarmismus zu tun, der oft wenig hilfreich ist. Das hat viel mit Verwischerei und Unschärfe zu tun, die nicht mal beabsichtigt sein mag, aber eben auch nicht weiterhilft. Man redet über Kindesmissbrauch und geht dann zu den Netzkonzernen Facebook und Google über, die sich gegen jegliche Regulierung wehren. Als ob das eine mit dem anderen zu tun hat. Google wurde für Streetview abgewatscht, das Smartphone ist der Spion der Netzkonzerne und das Einfallstor für wen auch immer, und hindert am Einschlafen, wegen Melatoninausschüttung. Alles ist viel schlimmer als früher, und es liegt am Internet (Ich spitze zu, aber nun, das sind halt auch die Messages, die gekickt werden).
Und dann kommt irgendwann der Hinweis, dass die Hälfte der Missbrauchsfälle in der Kernfamilie stattfinden, und ich frage mich, warum wir dann übers Internet reden. Nicht falsch verstehen: was dort passiert diesbezüglich, kann und muss verfolgt werden. Ich wage nur zu behaupten, die Ermittlingslage hat sich damit dann aber auch durchaus verbessert, denn vor zwanzig Jahren wars noch etwas schwieriger, gerichtsfeste Beweise vom munteren häuslichen Missbrauch zu kriegen, wenn das Opfer schweigt, die Leute wegsehen und eben kein Smartphone ausgewertet werden kann.
Abschließende Gesprächsrunde: jemand wollte seinem Kind kein Smartphone geben, obgleich alle anderen schon eins haben und die Klasse sich natürlich über Whatsapp und Konsorten organisiert. Herzlicher Zuspruch, das durchzuhalten, auch wenns „schwierig werde“, grade auch fürs Kind. Ich muss zugeben, da steige ich dann aus, denn bei allem Verständnis für Technikskeptizismus – ein „Ich mach meinem Kind das Leben schwer, weil ich das Beste für mein Kind will“ entzieht sich meinem Begriffsvermögen, aber ich muss nicht alles verstehen und bin grade auf ähnliche Weise ungerecht, weil ich nur aufzähle, was mich störte. Ich halte Präventions- und Aufklärungsarbeit vor Ort, in Schulklassen, Einrichtungen der Jugendhilfe etc. für eine wunderbare Sache. Ich begrüße ausdrücklich, dass IiD sich auf sowas konzentriert und nicht auf Netzkampagnen. Ich finds prima, wenn sich, wie geschehen, ein Verein wie IiD mit Vertretern von Google und Facebook trifft und sich austauscht, und ich meine es (auch) unironisch, wenn ich vermute, dass da zwei sehr unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen, ohne Schaden zu nehmen. Nächster Speakerslot.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich von einem Vortrag fern meiner Fachgebiete so begeistert sein könnte wie dem von Prof. Kavemann. Mir fällt lange niemand ein, der mit einer solchen Empathie, soviel Respekt vor der Klientel, solchem Fachwissen (soweit ich das beurteilen kann) und einem solchen konkreten praktischen Bezug fernab jeder professoralen Elfenbeinturmpflege ein Feld und die dort anzugehenden Problemfelder durchdeklinierte. Thema Gewaltprävention und Sexualpädagogik, was wohl lange separat behandelt wurde, weil – sehr verkürzt – eben das eine eher Problembehandlung ist und das andere eher eine idealerweise lustvolle Aneignung von Lebenspraxis. Nun gibt es aber durchaus Schnittmengen, und um die ging es ja den ganzen Fachtag über.
Erster Augenöffner: natürlich gebe es Fälle von Missbrauch und Übergriffen seitens Akteuren der Institutionen. Deren Skandalisierung sowie die Notwendigkeit zu Aufklärung und Aufarbeitung ist hoch, und so muss es auch sein. Die absoluten Fälle seien niedrig und auch das gehe noch weiter zu verbessern. Was in der Profession aber das weitaus häufigere Problem sei und – das jedenfalls mein Augenöffner – vergleichsweise kaum Aufmerksamkeit erfahre, sei die Übergrifflichkeit unter Gleichaltrigen.
Die Rede war nicht von Mobbing, sondern von teils durchaus organisierten sexuellen Ausbeutungsstrukturen. Das passiere weitgehend ohne dass es Betreuer etc. auch nur ansatzweise mitbekommen, und das Spannungsfeld ist ja auch und durchaus, dass es hier um Entwicklungszeiträume geht, wo es um das Einfordern der eigenen Freiräume und Selbstbestimmungen geht. Ab davon, dass Jugendliche ab einem gewissen Alter schlicht eh (und dem Himmel sei Dank) die Möglichkeiten und vor allem die Fähigkeiten haben, sich diese zu verschaffen.
Als Problem angesprochen wurde dann unter anderem die Schwierigkeit, in den einschlägigen Themenfeldern überhaupt als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen. Im Sinne von „mit wem kann man reden, wenn was schräg wird“, nicht im Sinne von Bienchen und Blümchen. In dem Kontext fiel ein großartiger Satz aus einer Studie unter Jugendlichen aus verschiedenen Einrichtungen, Zitat ungefähr: „Der kam dann und meinte, wenns Probleme gäbe, könnte man jederzeit zu ihm kommen und hat sich dann an die Pinwand gehängt, und da hing er dann auch.“ Jenseits davon aber: es sei auch ein Problem, wie schnell die einschlägigen Moralvorstellungen den respektvollen Umgang mit den Jugendlichen von vornerein sabotieren, und wie leicht auch unter Professionellen die Schlampenzuschreibungen greifen, obwohl grade sie wissen müssten, dass ihre Klientel überwiegend mit einschlägigen Vorgeschichten seit Kindesalter unterwegs ist. Und wären die Vorgeschichten unproblematischer gewesen, wären sie nicht zur Klientel geworden. Und das sind so die Geschichten, wo ich den Eindruck habe, ja, da kennt jemand die realen Probleme sehr genau und benennt sie konkret, auch wenns wehtut, und sagt kompetent an, wie und was anders zu machen ist. Und ich wage zu behaupten, verändert damit die Welt zum besseren.
Ein weiterer Augenöffner ihrerseits folgte direkt darauf, denn ich war anschließend dran.
Vorab: Vortrag kam generell gut an, jedenfalls nach dem Feedback, das bei mir wiederum ankam, aber Frau Kavemann intervenierte durchaus streng, als ich Selbstvermarktungsstrategien von Amateurporn-Darstellerinnen via Escort/Sexkontaktseiten mit der Imagepflege als „realistisch fickbar“ und die entsprechende Businessergänzung als Prostitution bezeichnete. Das hieße Sexarbeit und bezüglich der anderen Vokabeln müsse man sich nicht sehr anstrengen, um das anders auszudrücken. Was soll ich sagen, sie hat recht (und das sagte ich ihr auch beim anschließenden Gespräch). Der eigentliche Punkt aber: dieses ganze Gefasel von „Political Correctness als Sprachpolizei, Tugendterror, whatever“ war mit der Sache erledigt. Ihr geht es schlicht darum, dass man Menschen mit Respekt begegnet, und das kam mit einer Klarheit und Selbstverständlichkeit rüber, dass man sich fragt, warum damit so viele Leute ein Problem haben wollen. An sich ists einfach, sie wollen bestimmte Menschengruppen eben nicht respektieren. Muss man nicht, dann ist man halt aber ein Arschloch. Ich muss zu meiner Ehrenrettung dabei anmerken, dass ich einen Heidenrespekt grade vor den erwähnten Amateurdarstellerinnen hab, denn dazu gehört einiges an Mumm. Und dass es gelegentlich nicht ganz einfach ist, einerseits analytisch Marketingstrategien darzustellen und andererseits explizite Intentionen angemessen deutlich zu machen, aber ich arbeite gern dran.
Was hab ich erzählt? Vieles, was man in etwas trockenerer Form schon länger nebenan nachlesen kann und vor allem ein wenig eingekürzt zum einen, ein wenig persönliche Steckenpferde neu zum anderen. In Sachen letzterer nochmals einen Dank an die Forschungstorte und Miss_Surreal zu erhellenden Gesprächen auf dem 34c3. Ich sprach weniger zu „Porn verdirbt die Jugend nicht“ (was eh weniger mein Fachgebiet ist, wenngleich ich die Aussage bei aller Pauschalität grundsätzlich für zutreffend halte), stattdessen über das Elend von Female Friendly Porn auf den einschlägigen Portalen und unterschätzte Zugänge der weiblichen Jugend zu Pornografie. Das mir bis letzten Winter diesbezüglich nicht bekannte Feld Fanfiction war dort aber auch neu. Also nach wie vor: wenn sich mal was in Richtung einer genaueren Analyse was tut, ich würds gern wissen.
Sehr verkürzt dazu: auf Fanfictionportalen wie dem als Beispiel genommenen Archive of Our Own sind bei heftigen Reichweiten die Frauenquoten extrem hoch, das Durchschnittsalter thematisch bedingt vergleichsweise jung…
…und die Inhalte erstaunlich. Dass viel Fanfic geschrieben wird, war mir klar, die Zugriffszahlen hatten mich überrascht und insbesondere der Anteil expliziter Inhalte ist nicht nur damit zu erklären, dass dort eben auch ne Handvoll Jungs mit Triebstau und eine Portion älterer NutzerInnen mit entsprechend kinky Interessen gelegentlich was tippern. Whatever. Wie gesagt, den Anwesenden war die Inhaltsform auch eher unbekannt und die Größenordnung expliziter Inhalte ebenfalls. Ich denke, es könnte sich lohnen, hier mal ein wenig genauer zu forschen.
Nachmittags war ich recht bewusst in einem a) etwas kleinerem Workshop, weil zwei waren schlicht schon recht voll und ich quasi „außer Konkurrenz“ bzw. entsprechender Voranmeldung unterwegs. Weiter interessieren mich in der Tat insbesondere konkrete Fallberichte aus der praktischen Jugendarbeit, denn die Analysen und verallgemeinerten Betrachtungen kann ich zur Not auch lesen gehen. Also war ich in einer Runde mit Workshopleitern von pro familia und Leuten aus der Jugendarbeit, die einige der schwierigeren, eigenartigeren, ambivalenteren Fälle aus der Praxis vorstellten. Nicht ganz so drastische Geschichten wie vor zwei Jahren, aber mit teils ähnlichem Effekt: man steht als Außenstehender schon da und fragt sich, ja und jetzt? Vierzehnjähriges Mädel, kognitive Entwicklung eher zwei Jahre drunter, wird von einem oder zwei Jungs (deutlich u18) nach Nudes gefragt und schickt an mehrere(!) nicht nur Nudes, sondern nun, explizit pornografische Selfies. Die Jungs schicken die natürlich direkt an den Freundeskreis weiter. Eltern kriegen das mit, Jugendamt und Polizei wird eingeschaltet, alle Beteiligten kriegen eine sehr umfassende Belehrung, was und wie hier grade einiges extrem Scheiße ist. Rahmenfaktoren dabei aber:
– dem Mädel gehts prima. Sie hat absolut kein Problem damit, dass die Bilder rumgingen.
– Die Jungs scheinen da durchaus ihre Lektion gelernt zu haben, aber an sich sprechen wir hier grade von der Verbreitung kinderpornografischer Materialien/Anstiftung zur Erstellung selbiger und da haben wir entsprechende Strafmaße.
– Was ist eigentlich der Hintergrund? Die Familiensituation ist nicht ganz unproblematisch.
– Wenns dem Mädel gutgeht, ist es in exakt niemandes Interesse, ihr jetzt zu erklären, warum was ganz furchtbares passiert ist (sie ein Opfer ist, es ihr eigentlich scheisse gehen müsse usw.).
Jetzt alles etwas zugespitzt und ich dräng mich definitiv nicht vor, um hier ein für allemal zu verkünden, was hier richtig, falsch, wahr, schön und gut ist. Es ist schlicht ein Feld, auf dem einige Akteure unterwegs sind und einige Widersprüchlichkeiten generell ausgehalten werden müssen (ich meine, es ist bereits quasi sprichwörtlich, dass wir hier eine Gesetzeslage haben, die je nach Alter der Beteiligten zu Situationen führt, bei denen es legal ist, dass sie Sex miteinander haben, aber sich nicht dabei fotografieren dürfen), und das sind nicht mal die eigentlichen Problem- und Fragestellungen, mit denen man in der Praxis dann konfrontiert ist.
Dort und beim anschließenden Ausklingen hatte ich noch ein paar erhellende Gespräche mit einem Kriminalhauptkommisar, der ursprünglich aus der Mordkommission kam und nun Kindesmissbrauch/Onlineermittlungen diesbezüglich bearbeitet. Kann ich jetzt schwer draus plaudern, weil doch eher nichtöffentlich, aber es kam eben auch der Punkt, dass man natürlich wegen Internet da in Verzweiflung ausbrechen könne, aber andersrum natürlich damit auch Ermittlungs- und Beweismittel zur Verfügung stehen, die man so bisher nicht hatte – nicht jetzt in Sachen VDS oder ähnlichem, sondern wie bereits angesprochen, weil bei einem Fall häuslichen Missbrauchs vor zwanzig Jahren eben nicht in der Form Medien anfielen, mit denen man Täter finden/überführen konnte. Schlimmstenfalls hats halt nie wer mitbekommen. Spannend fand ich die konkrete Schwierigkeit, tatsächliche Fallzahlen und Dunkelziffern überhaupt einzuschätzen.
Sowas wie ein Fazit? Die Jugend verwahrlost nicht, und die Strafverfolger stehen mitnichten machtlos vor dem Sumpf Internet. In der Regel ist alles deutlich komplexer und selbst (grade?) bei einem solchen Thema nicht ansatzweise schwarzweiß.
Mehr als das Inhaltliche aber insbesondere einen Heidenrespekt. Hier trafen sich Leute aus sozialer Arbeit, Jugendbetreuung, Justiz, Polizei und weiteren Akteuren, um scih auszutauschen, und luden Leute wie eben auch mich ein, um nochmal völlig andere Perspektiven (Pornvermarktung im Internet, himmel nochmal) auf dem Themenfeld zu haben, mit dem sie sich auseinandersetzen müssen und wollen. Es wird gern über Neuland und seine Akteure gelästert, und weiß Gott, die Pädagogen kriegen ihr Fett dabei ab, aber ich sehe in meinen „hauptberuflichen“ Branchen wenig vergleichbares, was so ambitioniert und bewusst über den eigenen Tellerrand geht und so gezielt grade auch die Perspektiven mitbekommen will, die als problematisch wahrgenommen werden. Und ja, natürlich hat man auch dort die teils naiven Perspektiven aufs Netz und einige der dort vorherrschenden Vermarktungslogiken, aber man setzt sich damit auseinander, man wills verstehen und einordnen können. Ich muss grade der Onlinebranche nichts davon erzählen, wie Dinge mit der Zeit immer schneller immer komplexer werden, und unter solchen Rahmenbedingungen hinzustehen und zu sagen, das gehört verdammt mochmal auch vor unseren Horizont und nicht dahinter, davon kann sich manche Netz- und Techieszene durchaus eine Scheibe abschneiden und täte gut daran.
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