…ist so eine Sache. Es ist ne Weile her, da rauschte auf Twitter ein Statement ungefähr der Art an mir vorbei, dass die Nichtaufarbeitung der NS-Vergangenheit in Deutschland ja eine generelles und nicht nur ein staatliches/institutionelles Versagen sei, dass durchgehend die Familiengeschichten geschönt seien und ja offenbar alle, (wie wir seit Oettinger wissen) selbst Verbrecher wie Filbinger irgendwie auch „im Widerstand“ waren, man fragt sich, wer eigentlich dabei war.
Ich empfand einen Anflug von schlechtem Gewissen: ich werd zu der Generation gehören, die als letztes die eigene Verwandtschaft hätte fragen können, was da eigentlich Sache war. Jetzt ists aber auch schon ein paar Jahre her, dass meine Großmutter starb, und ich fragte seinerzeit nicht. Das hat auch damit zu tun, dass sie eine Kriegswitwe war und mein Großvater in Stalingrad blieb. Entsprechend hatte ich nie viel von ihm erfahren und ein gutes Stück weit auch Hemmungen zu fragen. Ich hatte eine Großmutter, die nicht wirklich einfach, aber eine herzensgute Frau war, einen Vater, der uns immer vermittelte, dass es uns nie so wie ihm gehen sollte: aufzuwachsen ohne einen Vater, der sein Kind lieben und sich kümmern konnte. Natürlich will man in solchen Kontexten keine Großväter als Täter sehen. Ich fürchte, wahrscheinlich erfährt man im Folgenden mehr über mich denn über die Familienvorgeschichte. Aber nun.
Meine ersten Erinnerungen dahingehend, dass mein Großvater bei mir unter Naziverdacht geriet, betreffen interessanterweise ein Jugendbuch, das ich irgendwo mal beim Stöbern fand. „Der wahre Robinson“ von Oskar Kloeffel, ich erinner mich, dass ich den „richtigen“ Robinson damals schon gelesen hatte, das Buch fand, las und sehr eigenartig fand. Das ist nun sehr lang her, aber um die ferne Erinnerung noch weiter zu verkürzen: eine Robinsonade, in der der „Robinson“ sich die Hälfte der Zeit den Kopf zerbricht, ob er seinem (farbigen) Freitag trauen kann, weil der ja wild und degeneriert ist, ob er sich und seine Kultur verrät, wenn er mit ihm kooperiert usw., der naive Richie damals kapierte es schlicht nicht, aber es blieb hängen und irgendwann mit mehr Kontext verstand er ein wenig besser, warum das seinerzeit wohl als gute Jugendliteratur gegolten haben könnte.
Was erfuhr ich sonst über ihn? Nicht viel – meine Großeltern heirateten kurz vor dem Krieg (1937), er war wohl Arbeiter im Nachbarort, und dann war er zuerst direkt auf dem Frankreichfeldzug und später dann in Russland. Ich erinnere mich an eine Erzählung, dass mein Vater ihn kaum, wenn überhaupt bewusst (weil Baby) gesehen hatte und das sollte auf einem Zwischenstopp der Bahn gewesen sein, mit dem er an die Ostfront gebracht wurde, und bei der Durchreise von West nach Ost noch mal schnell Frau und Kind treffen konnte. Und aus Stalingrad dann zum einen, dass er ein Bein verloren hatte und zum anderen, dass er zuletzt von einem anderen Soldaten im Schneetreiben gesehen wurde, der ihm zurief, in welche Richtung der Sanka sei, und in die sei er dann auch verschwunden. Dann nichts mehr, die einschlägigen Hilfs- und Recherchedienste hatten auch Jahrzehnte später nichts zu berichten.
Grundsätzlich gabs nun keine Gründe anzunehmen, Großvater sei nun erbitterter Gegner des Regimes gewesen usw., im Ariernachweis war keine Mitgliedsnummer der Partei eingetragen, aber das wars an sich schon. Die Gegend selber war alles andere als widerständig. Ein Relikt, das über die Jahre immer noch etwas gruseliger wurde, war die „Familiengeschichte der Joos“. Kinderreich sei die Sippe immer gewesen (eine Tradition, mit der ich brach) und hey, nur 27 Totgeburten. Und am Ende dann die Kriege, wo die werten Ahnen auszogen, um „bei allen Waffengattungen, in allen Chargen, auf allen Fronten zu kämpfen, zu bluten und zu sterben“. Um anschließend „den Niedergang eine verratenen Vaterlandes und seinen Wiederaufstieg unter der Führung Adolf Hitlers“ zu durchleben.
Auf der Rückseite des Einladungsschreibens sind eine Latte handschriftlicher Geburts- und Sterbedaten, ich nehme an, auf dem Sippentreffen wurde Ahnenrecherche betrieben. Nichts, was mich per se irritiert, aber im Kontext wirds, nun, komisch.
Geschenkt, dass die Redaktionen gleichgeschaltet waren. Auf der Rückseite gibts dann die Einladungen zu den einschlägigen Partei- sowie SA/SS-Ortsgruppentreffen usw. Wen es interessiert: Neckar- und Enzbote, zuletzt gehörte der zur LKZ. Zwischenfazit: lang war das eben eine Indizienlage, die weniger über Großvater, sondern schlicht etwas über die damaligen Zustände aussagte. Das, und das übliche Schweigen zum Thema in der jeweiligen Generation.
Zum Schluss waren es dann doch die Bücher, die Zweifel dann doch weitgehend ausräumten. Den „Rebell“ kann man unter Verdacht stellen, aber dass die Zöberleins nun in meinem Kinderzimmerregal in Kirchheim stehen, kann ich mir nicht wirklich mit einem Fehlgriff in der schlecht ausgestatteten Bahnhofsbuchhandlung erklären.
Zum Inhalt gibts Anmerkungen aus berufener Quelle, ich muss zugeben, ich hab selber in die Bücher nicht reingeguckt. Ich bin recht sicher, auf die stieß ich erst bei der Wohnungsauflösung, nachdem Großmutter starb. Schon vorher hatte ich irgendwann mal einen Goebbels in mein Bücherregal überführt, der ging aber noch als „hat wahrscheinlich jeder damals geschenkt gekriegt, der nicht bei drei auf dem Baum war“ durch. Ich muss zugeben, für die zwei Bände Zöberlein fällt mir sowas schwer anzunehmen, weil das dann eben doch auch „Gebrauchs- und Unterhaltungsliteratur“ ist und nichts zum halt den Schein wahren im Bücherregal.
Und nun? Er ist tot, alle, die ihn kannten, auch. Tuts mir leid, nicht mehr nachgefragt zu haben? Eigentlich nicht, nein. Die Großmutter, die ich kennenlernte, war wie eingangs bemerkt, nicht einfach, aber – ums auf den Punkt zu bringen – ein guter Mensch. In einigem – und spätestens nach dem Tod ihres Sohnes/meines Vaters – war sie bitter geworden, und irgendwie hatte ich immer das Gefühl, es stehe mir nicht zu, ihr da was vorzuhalten, was mich selber nie direkt betroffen hat. Von sich aus sprach sie nie drüber. Interessanterweise auch nicht über die Zeit danach als Kriegswitwe mit kleinem Kind in der Nachkriegszeit. Mag sein, ich verkläre da was, aber manchmal dachte ich da auch, sie wusste durchaus, wie da A mit B zusammenhing und hatte ihren Bruch damit gemacht. Ich kann diesbezüglich schlicht kein schlechtes Wort über sie sagen – die Entengasse war schon multikulturell, als das Wort noch nicht erfunden war, und bei ihr waren immer alle willkommen, was ich auch erst recht spät als überhaupt nicht selbstverständlich erkannte.
Und das war nicht selbstverständlich. Kirchheim war diesbezüglich meinetwegen nicht schlechter, aber definitiv nicht besser als der Rest der Republik. Ich bin beim Nachbericht von 1953 zu Stalingrad zehn Jahre später jedesmal wieder verblüfft, wenn ich ihn in die Hand nehme: wie da der Heldenmut der Flieger gepriesen wird und die Frage nach den sehr konkreten Ursachen jenseits von Granatbeschuss und Winter unter den Tisch fällt, warum dort Tausende starben, ganz zu schweigen von der Frage, was die arme sechste Armee dort überhaupt zu suchen hatte. Im „wilden Fanatismus stürmten die Rotarmisten gegen die letzten deutschen Stellungen“, und „wie brennende Fackeln stürzten die braven JU’s mit den hilflosen verwundeten an Bord in die Tiefe“, das steht so dort geschrieben, verdammt nochmal. Meine Mutter (aus Ungarn vertrieben) musste sich auf dem Standesamt in den Sechzigern noch sagen lassen, sie könne ja froh sein, dass sie jetzt mit einem richtigen Deutschen verheiratet wäre und legt Wert drauf, durchaus noch zu wissen, bei welchen alteingesessenen Familien sie bis dahin als Zigeuner galt.
Ein Fazit? Ich hab keine wirklichen Beweise, aber die Indizien raten mir, nicht davon auszugehen, dass ich eine unbekannte Widerstandsgeschichte in der Familie habe, wahrscheinlich eher im Gegenteil. Machts mit mir was? Interessanterweise gerade ja: wenn man mich fragt, was ich angesichts eines wahrscheinlichen Nazigroßvaters empfinde, dann stelle ich als erstes Mitleid fest. Ich bin ein großer Freund der These, dass Nazis aufs Maul gegeben gehört, und wenn das Arschloch Mimimi macht, dann gleich nochmal, und bei dem „keinmillimeterrechts“-Twitter grade lag mir gelegentlich ein „nicht mal neun?“ auf der Zunge, aber letzten Endes wünsche ich offenbar keinem, so zu krepieren wie mein Großvater. Zweiter Gedanke war der „Verdacht gegen mich“: ob das das typische „Naja, in der Familie siehts man den Leuten eher nach“-Effekt ist. „Konnte ja nichts für, waren andere Zeiten, wer konnte ahnen, dass…“ undsoweiter. Beim Inmichlauschen schien es mir dann aber eher eine grundsätzliche Haltung meinerseits zu sein. So rein abstrakt würde ich auch gern ein paar der heutigen Akteure im dortigen Kessel sehen, faktisch sträubts sich mir irgendwie, ich nehm das als Zeichen eines okayen Wertekompasses.
Nachgehen, beschäftigen tut mir weniger die Geschichte um meinen Großvater und mehr die ganze Zeit danach. Weniger, was mit den Toten war, sondern was passierte mit den Übriggebliebenen, was taten die? Der Geschichten ob der weitgehend bruchlosen Fortsetzung der deutschen Geschichte in Sachen Führungspersonal politischer, kultureller etc. Couleur sind Legion, und wenn ich eben über diesen Zöberlin lese, auf den ich jetzt eher zufällig und erstmals gestoßen bin: Überzeugungstäter seit den Zwanzigern, hatte in der letzten Kriegswoche noch „Verräter“ ermorden lassen, Todesurteil, Umwandlung lebenslang, nach zehn Jahren war er raus. Und fünf Jahre vorher schrieb der Neckar- und Enzbote schon wieder über den heldenhaften Einsatz der JU-Piloten, die Verwundete aus dem russischen Kessel retteten. Tja.
P.S. Bilder/Zeitungsausschnitte sind durchaus groß aufgelöst und durchgehend lesbar, gern im separaten Fenster aufmachen, wenn die Lightbox da zickt. Da wird dann auch eben mal vermeldet, dass bei zwanzig „überraschenden Hausdurchsuchungen“ zentnerweise „Propagandamaterial verbotener kommunistischer Tarnorganisationen beschlagnahmt“ wurden. Das Propagandamaterial der Nazis stand da nach wie vor in der Tagespresse.