So, hier sind wir nun schon ein paar Tage und ich muss ein paar Assoziationen niederschreiben. Marrakesch ist eine tolle Stadt, macht mich aber permanent nachdenken über Sachen zuhause, und die kleinste davon ist, wie eine Stadt ohne Fixierung aufs Auto funktioniert. Der größte Teil der Medina ist für Autos praktisch nicht befahrbar, dem allgemeinen Chaos tuts keinen Abbruch, selbiges findet aber in einem vollkommen okayen Ausmaß statt, YMMV. Am meisten beschäftigt mich aber in durchaus marxscher Definition die Produktionsweise. Marrakeschs Innenstadt ist ein Wirrwar von kleinen Läden, in denen es immer wieder weitgehend dasselbe gibt (Lederwaren, Lampen, Deko, Metallarbeiten, Gewürze, Färbemittel, Kosmetik, Essen usw.) und ähnelt da durchaus ein wenig den einschlägigen Metropolen, nur sind hier in der Regel die Werk- und Produktionsstätten direkt dabei, nebenan, drei Ecken weiter. Sprich, wir haben meinetwegen drei Schuhgeschäfte, und dazwischen eben auch drei Winzig-Werkstätten, in denen besohlt, genäht, genietet wird usw.
Das ganze bis zu den Schmieden, die sich in einer der Gassen etwas konzentrieren, und dem Gerberviertel, das genauso riecht, wie man denkt. Wir haben an jeder dritten Ecke eine kleine Holzwerkstatt, wo die einen natürlich die Schachfiguren für die Touris drechseln, aber die anderen eben mal die fetten Hauseingangstüren schnitzen oder Möbel bauen, mit gezapften Holzverbindungen und der Handsäge. Bei den Metallwerkern schweißen sie Karren, Bettroste, Fenstergitter und Zauntore zusammen und ich schwöre, die Elektrodenschweißgeräte sind älter als unseres.
Und nun bin ich ganz ein Freund industrieller Massenproduktion, die es erlauben würde, dass statt 20 Leuten nur noch 2 die Schuhe machen und die anderen 18 stattdessen mal die Straßen und die Kanalisation in Ordnung bringen könnten oder für ein Sozialprogramm, das etwas über ein „Die Alten ohne Kohle dürfen am Straßenrand liegen und Taschentücher verkaufen“ rausgeht, auf der anderen Seite scheint mir da hier sehr viel unentfremdete Arbeit verrichtet zu werden, und – das ist so der zweite „Hoppla“-Moment gewesen: die arbeiten wie ich. Ich meine, Himmel, natürlich können sie das, was sie tun, drölfzigmal besser, aber die Grundhaltung scheint mir das mir bekannt vorkommende „Es muss halt funktionieren und ordentlich sein, und das mit den Ressourcen, die wir halt haben“, und alles andere folgt später. Ich schäme mich seit neuestem nicht mehr so sehr für meine Schweißnähte. Klar kann man die Brecheisen aus geilem Chromvanadiumstahl machen, aber hey, wir haben Bewehrungsstahl und ne kleine Esse und wir brauchen Brecheisen. Also machen wir sie so.
Ich trage mich seit einer Bewässerungsbesichtigung im Bahia-Palast mit dem Gedanken, testweise permanent verbaute Gardena-Verbindungsstücke durch Fahrradschlauch und viel Vulkanisierung zu ersetzen, einfach nur, weil ich das Mindset mag, das Leute auf die Idee bringt, Bewässerungsschläuche mit Vulkanisierung und Fahrradschlauch zu verbinden.
Jetzt bin ich schon dem „andererseits“ voraus: selber hab ich große Freude dran, über mehr Dinge wieder mehr Macht zu haben, wenn man sich gestelzt ausdrücken will. Andere sagen Heimwerker dazu und ich mag den Begriff nicht so, weils ein wenig zu sehr nach Hobby und Selbstverwirklichung, zu sehr nach „Ich kauf mir lieber drei fette Bosch blau-Geräte als ein Wandregal“-Lifestyle klingt, und an sich mag ich in erster Linie die Selbstwirksamkeiten grade über ein verdammtes Wandregal raus, klar, natürlich denk ich da wieder an Utopiastadt und die Möglichkeit, gesellschaftliche Räume zu erschließen und dabei eben auch auf die eigenen Fertigkeiten zurückgreifen zu können.
Inzwischen sind wir drei Tage weiter in einer Kasbah 70 km hinter Ouzarzarte, und ich stoße auf ein verwandtes Prinzip: das hier ist ein Mittelding zwischen Burg, Dorf und Karawanenhof, grob gesagt ein Haufen Lehmhäuser aufeinander.
Nach und nach wurden Bereiche restauriert, nachdem sie während und nach der französischen Kolonialzeit eher verfallen und bewohnertechisch ausgeblutet sind. Das Teil ist irgendwann Anfang des 16. Jahrhunderts gebaut worden, wurde von ein paar tausend Leuten bewohnt, jetzt sinds noch 120 im „alten Bereich“, es kommen aber inzwischen Helfer, Architekturstudenten (u.a. aus Deutschland) und natürlich auch Filmteams vorbei, und an sich scheint es mir wieder mehr Form anzunehmen nach einigen Jahrzehnten Schwund, aber auf was ich rauswollte: weil im Prinzip alles „ein Haus“ ist, hatten die Leute hier auch sehr viel schlicht zusammen instand gehalten/halten müssen.
Wenn dem einen das Dach abgesackt wäre, hätts dem anderen die Außenwand kaputtgemacht. Wenn man den weggegammelten Palmenholzbalken im eigenen Flur tauschen musste, musste man ihn auch im angrenzenden Nachbarswohnzimmer tauschen, wenn er bis dort in die Decke gebaut war. Über die Art zu wohnen kann man geteilter Meinung sein (mein Ding ists allenfalls bedingt, abgesehen von den nebenan erwähnten coolen Eigenschaften der Lehmbauweise, wie guter WLAN-Durchlässigkeit, einfachstem Kabelverlegen und der Möglichkeit, Infrastruktur nach Belieben und auch nachträglich in Wände und Decken zu versenken. Ich will Router mit In-Wandmontage!). Die Art, eben ein *Gemeinwesen* gemeinsam zu bauen, das finde ich hingegen per se eine Gute Sache.
Nun leben wir in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, die ihre Produktivität aus eben dieser Ausdifferenzierung zieht, die mit Massenproduktion die Verfügbarkeit von Waren (theoretisch) für alle sicherstellen könnte usw., und diese Herangehensweise wirkt dem gegenüber rückschrittlich, aber ich denke durchaus, dass eben die Produktivitätsniveaus der heutigen Zeit es gerade erlauben, ein Mehr an Gesellschaft und ein Mehr an gemeinschaftlichem Tun zu schaffen. Das ist jetzt weder neu noch originell und an X Stellen besser beschrieben, es ist nur spannend, das in so vielen Facetten hier so vor Augen zu haben.
tl;dr: Hier ists schön und interessant.
Mehr davon, bitte! Dein Schreibstil ist wunderbar zu lesen! Und die Fotos sind herzallerliebst!
Kam grade :) Sorry für Lag beim Freigeben, wir hatten wenig Netz die letzten Tage und Blogbackend mach ich an sich nur am Rechner und nicht am Handy…