Irgendwie wills mit der Überschrift nicht hinhauen, denn an sich sollte da auch noch was zur Geschichtsschreibung durch Siegergesellschaften im Allgemeinen und dem Konflikt zwischen Andrej Sacharow und dem sowjetischen Lyssenkoismus im Speziellen rein sowie eine Anspielung auf die Wikipedia und auf Neal Stephenson, aber dann hätte ich mir vermutlich den Text sparen können vollends. Ich fang mal von Anfang an. Das gehört alles zusammen, ehrlich!
Bei meinem letzten Besuch in der Sonderbewirtschaftungszone Ost hatte ich das Vergnügen, eine größere Sammlung von Literatur durchstöbern zu können und mir auch ein, zwei Bücher auszuleihen. Das waren „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Ostrowski (noch nicht gelesen), „Im Banne der Enigma“ von Wladislaw Kozaczuk (gelesen) und „Die sowjetische Agrarwissenschaft und unsere Landwirtschaft“, ein „Protokoll der Tagung des ZK der SED mit führenden Agrarwissenschaftlern der DDR“ von 1951 (angefangen).
Auf den Ostrowski stieß ich in einer Thälmann-Biografie, und Teddy Thälmann als Schutzpatron des Zatopek ist selbstverständlich immer ein Licht auf meinem Wege. Die Enigma interessierte mich schon immer, und Stephensons Cryptonomicon kann ich seit Jahren empfehlen, wenn jemand was spannendes, langes und historisch wie sachlich ordentlich recherchiertes zur Kryptographie im Allgemeinen und Kryptostrategien im zweiten Weltkrieg im Besonderen lesen will.
Das mit dem agrarwissenschaftlichen Bericht ist schwerer zu begründen: ich erinnere mich vage an ein sozialistisches Kampflied mit dem Refrain „Agrarwissenschaftler im Dienste des Sozialismus, Agrarwissenschaftler im Dienste des Kommunismus“, das seitdem als ungeschlagener Platz Eins meine Topliste der vollkommen abgefahrenen Lied-Refrains anführt. Deswegen fiel mir der Buchtitel beim Stöbern auf. Beim Reinblättern sah ich dann, dass es um die wissenschaftliche Verbesserung der agrarbiologischen Methoden in der DDR ging, unter Berücksichtigung der sowjetischen Agrarwissenschaft unter T.D. Lyssenko. Von Lyssenko wiederum las ich vor Jahren mal in einer Biografie von Andrej Sacharow, der wenig überraschend den Lyssenkoismus (zurecht) in Grund und Boden verdammte. Ich war neugierig, der Tagungsbericht des ZK der SED gesellte sich zu den beiden anderen Titeln und einige Tage drauf kam ich ja wieder im goldenen Westen an und las abends vor dem Einschlafen die eine oder andere Seite.
Zuerst die Enigma, und der Kozaczuk ist wirklich fein. Extrem kurzer Abriss: die Polen begannen schon lange vor dem Ausbruch des WK2 die deutschen Enigma-Sprüche abzufangen und knackten den Code der damals benutzten Maschinen irgendwann. Seitdem existierte eine Gruppe polnischer Kryptologen, die es nach Kriegsausbruch über Südfrankreich und Spanien schließlich nach Bletchley Park verschlug und die vor und während des Exils eigentlich nichts machten, außer Enigmacodes zu knacken. Eine der Grundaussagen: Die Codeknacker in GB und den USA haben Großartiges, möglicherweise gar Kriegsentscheidendes geleistet, aber sie bauten auf den Vorarbeiten der Polen auf, die unter anderem die ersten korrekten Enigma-Nachbauten vorweisen konnten usw. usf. Dafür kommen sie in der westlichen Geschichtsschreibung allenfalls als Fußnote vor, und das sollte man der Fairness halber korrigieren.
1979 erschienen, nimmt das Buch viele Motive aus „Cryptonomicon“ vorweg – z.B. die Sache, dass man nicht einfach aus Enigmasprüchen gewonnene Informationen verwenden durfte, sondern immer noch andere Aufklärungsmaßnahmen zumindest vorgetäuscht werden mussten, damit die Deutschen nicht auf die Idee kämen, die Enigma sei geknackt. Mir scheint es historisch korrekt, und natürlich kamen mir Gedanken über die Sieger-Geschichtsschreibung und wie weit die polnischen Beiträge zum Kryptokrieg ins allgemeine Wissen eingingen, oder ob sie nun nur noch auf einigen Dachböden in diversen Drucken des Militärverlags der DDR ihr Dasein fristeten.
Also guckte ich mir den Enigma-Artikel auf der Wikipedia an und war erstaunt, dass dort die Beiträge Kozaczuks vorbildlich eingepflegt waren.
Nun neigen große Geister ja zu Depression und Pessimismus, insofern versuche ich ständig, mich auch über kleine, positive Überraschungen zu erfreuen, weil oft gibts das ja nicht. Jedenfalls, ich freute mich und verstieg mich währenddessen gar zu der kräftigen These, dass das Internet im Bereich der „Siegergeschichtsschreibung“ erstaunliches zu leisten vermag. Von diesem „polnischen Beitrag“ hatte ich bis dato noch nichts gehört, obgleich ich mich als vergleichsweise belesen und interessiert an diesen Themen betrachten würde. Ich würde vermuten, dass das nicht mal an westlicher Böswilligkeit liegt, man hats einfach nur nicht in dem Maß mitbekommen, dass es so zum „Allgemeinwissen“ werden konnte wie eben die Enigmaknackerei in Bletchley Park. Könnte man weiter ausführen, aber dann wirds zu lang. Kurzfassung: nicht jeder kommt auf nen DDR-Dachboden und liest polnische Militärgeschichte, aber Wikipedia kann jeder angucken, und dort steht sowas nun auch. Ich halte das für einen Fortschritt.
Jedenfalls, der polnische Beitrag zum Sieg über die Faschisten hatte mich erfreut. Nun aber zum ZK der SED, wo ich vermute, dass genau das Umgekehrte auf mich zukommt. Mein bisheriger Eindruck: man kommt aus der Sowjetunion zurück, hat ne Menge gelernt und eben auch einigen Unsinn von Lyssenko gehört. Nun muss man versuchen,
a) das Vernünftige rauszudestillieren, das gabs nämlich einiges und
b) Lyssenko so zu widersprechen, damit niemand deswegen sauer wird, aber man dennoch seinen Quatsch in der Praxis links liegenlassen kann, weils eben Quatsch ist.
Das ist für einen Wissenschaftler natürlich ein hartes Brot, aber grade deswegen bin ich auf das Buch derbe gespannt, wies weitergeht. Was an sich natürlich auch irgendwie skurril ist. „Was liest grade?“ – „Och, den 1951-Tagungsbericht der SED zum Stand der sowjetischen Landwirtschaft und dem der DDR.“
Der Witz an der Sache ist aber, dass mir schon in den ersten Vorträgen einiges bekannt vorkommt. Weit weg davon sind wir nicht. Diese „Ich weiß, dass das was X sagt, vollkommener Müll ist, aus strategische Gründen kann ich das aber nicht so sagen, sondern muss das gutfinden, aber an sich ganz was anderes vorantreiben“ – Geschichte les ich heute eben nicht mehr so oft in wissenschaftlichen Tagungsbänden, aber recht häufig in einschlägigen Spiegel-Interviews.
Insofern scheinen mir beide Titel, die Agrarwissenschaft wie auch die Enigmageschichte, zwei höchst erhellende Texte zu sein, die mehr über die heutige Welt und ihre Organisation von Wissen aussagen, als man meinen würde, bedenkt man die Publikationszeiten und -umstände. Und wie immer glaube ich, dass das Internet als gigantisches und niedrigschwelliges Wissensarchiv da in Zukunft eine Rolle spielen wird. Einfach, weil sich Einseitigkeiten schlechter durchhalten lassen (und sie auch in den seltensten Fällen überhaupt erwünscht sind) und weil Mechanismen des Selbstbetrugs und der bewussten inneren Widersprüchlichkeit nicht mehr von einer Aufdeckung durch „offizielle“ Stellen abhägen, sondern im Zweifelsfall eine Sache von zwei Links sind.
Große Bögen mal wieder, aber sorry, kürzer gings nicht. Aber als nächstes kommt der Ostrowski, auf den bin ich gespannt und ich denke, über den lässt sich weniger wild bogenschlagend was bloggen.
DDR fasziniert dich, gel?