Wikipedia, das deutsche Wissenschaftssystem und ein paar Selbstwirksamkeitsüberlegungen

Im Fedi schubste mich Jonas letztens
a) auf den Gedanken, die Wiki brauche mehr (wissenschaftliche) Strukturen für die Qualitätssicherung, auf einen
b) FAZ-Artikel zum Thema Relevanz von Autoren und den harten Bandagen auf WP-Diskussionsseiten, (dessen Autor ich anschließend etwas unverdient grob anfasste, sorry, Johannes), sowie auf
c) die BIE, ein bewundernswertes Projekt namens „Bamberger Islam-Enzyklopädie“, wo das Wikipedia-Portal Islam in einer mir völlig beispiellos scheinenden Kooperation von Wiki und universitären Strukturen auf höchstem Niveau gepflegt wird.

Feines-Projekt-Inception

Jonas wünschte sich mehr von sowas, mir würde das auch gefallen, und warum gibts nicht mehr davon? Man könnte wen fragen, der sich auskennt. Ich fragte Patrick Franke, der das ganze an der Uni Bamberg bwz. in der Wikipedia hochgezogen hat, wir erhielten eine Latte Antworten, Anregungen und kluger Gedanken, und lesen lassen die sich auf dem Wikipedia-Kurier bzw., wenns da mal von der Startseite fiel, im Volltext nebenan. Ich fühl mich nun klüger und handlungsfähiger und möchte mich dafür sehr bei ihm bedanken. Überhaupt machen solche „a führt zu b triggert c und auf einmal entsteht was tolles“-Erlebnisse das Netz und die Welt als solche zu einem großartigen Ort.

Wenn sich eine hochkompetente Person wie PaFra zum Thema „Vernetzung von Wissenschaftsbetrieb und Wikipedia“ äußert, tu ich gut daran, die Klappe zu halten und zuzuhören. Sich hinterher Gedanken über eigene Optionen, Anschlussmöglichkeiten und Motivlagen zu machen, scheint mir aber eine sinnvolle Anschlussbeschäftigung, daher: ein paar subjektive Gedanken und Anregungen dazu.

Die von PaFra angesprochenen Schwierigkeiten mit den diversen Wikipedia-Regelwerken kann ich durchaus nachvollziehen. Für meinen Teil komme ich besser damit zurecht, seitdem ich das als eine Art „Demokratisierung der Wissensorganisation“ verstehe. Im Kontext des von ihm ebenfalls angesprochenen Wissenschaftstransfers und seiner vermehrten Einforderung auch von Länderseite gehen da bei mir gleich ein paar Win-Win-Win-Lampen an.

Ich nenns mal „gesellschaftliche Verankerung von wissenschaftlichen Denkweisen“: gerade in Zeiten von Wissenschaftsfeindlichkeit und der zunehmenden Verdrängung von Fakten durch Befindlichkeiten, von Recherche und Beleg durch Bothsideism etc. scheint es mir eine wichtige Aufgabe des Wissenschaftsbetriebs, Grundlagenwissen und Ergebnisse in einer faktenbasierten und transparenten Form zu vermitteln. Dafür mag die Wiki kein Universaltool sein, allein aufgrund ihrer Reichweite und ihres Impacts scheint sie mir aber auch eine lohnende Baustelle.

Einüben von Vermittel- und Lesbarkeit. Da ahne ich Potential auf allen Seiten, denn die Wiki ist mitnichten ein Hort allgegenwärtiger Verständlichkeit. Ich bin mir sicher, diverse Fachbereiche könnten nur gewinnen, wenn sie versuchen, ihre Grundlagen verständlich und korrekt in der Wiki abzubilden und vermute erhebliche Lernmöglichkeiten sowohl bei den potentiellen Rezipienten als auch beim schreibenden Fachpersonal.

Zuletzt den Aspekt, den ich „Demokratisierung der Wissensorganisation“ nannte. Jeder Wissenssoziologe wird mich dafür wahrscheinlich im Moor versenken, aber ich vereinfache da mal extremst zu einem Modell, in dem wir ein Wissenschaftssystem haben, das eben Wissen in einer Form produziert, die in erster Linie systemintern wieder rezipiert wird. Transfer in Wirtschaft und Technik, Verständnis in der breiten Gesellschaft, Diskussion von Folgen oder von dem, was als gemeinsam geteilte Basis gelten darf, findet woanders statt und oft genug sind die ganzen Prozesse kräftig gegeneinander isoliert. Nun mag sich ein aufrechter Luhmann-Ultra mit „korrekt, so isses.“ zurücklehnen, ein verstockter historischer Materialist wie ich sagt aber, dass das Unterfangen lohnen könnte, die Welten dort zusammenzubringen, wo sie ohnehin alle bereits präsent sind.

Denn der Prozess der Einigung auf einen gemeinsamen, geteilten und akzeptierten Stand des Wissens ist schwierig. Er baut ncht nur auf wissenschaftliche Methodik, sondern ist eben auch ein andauernder Prozess des Austauschs, der Begründung, der Rückversicherung etc., und ich bin der festen Überzeugung, dass die Wiki da mehr sein kann (und schon lange bereits weit mehr *ist*) als eine „irgendwie kollektiv gepflegte Enzyklopädie“. Relevanz-, Quellen- oder Neutralitätsdiskussionen, so nervig, anstrengend und teils auch hässlich sie werden können: sie sind letzten Endes dokumentierter, mühseliger Prozess der Versuche einer demokratischen Konsensfindung dazu, was als bekannte Information gelten soll.

Unorganisiertes Weltwissen, Symbolbild

Unorganisiertes Weltwissen, Symbolbild

Ich sag mal so: ich halte solche Prozesse für gesellschaftlich wirkmächtig und will an sich gerne Teil von ihnen sein. Ich würde auch jeden Universitätsangehörigen unterstellen, qua Beauftragung als institutionalisierte Form der gesellschaftlichen Wissensproduktion und -prüfung eine gewisse diesbezügliche Verpflichtung zu haben.

„Wirkmächtig“ ist ein schönes Wort.

Um da zum Schluss noch den Fokus über die „hauptberuflichen Wissenschaftler“ und institutionelle Zusammenarbeit mit Lehrstühlen oder Fachbereichen hinaus ins Indiviuelle auszudehnen: selber fühle ich mich tatsächlich eher abgeholt vom Gedanken an die „Nebenberufler“, den PaFra mittendrin auch mal aufbringt.

Selbst hab ich nach der Uni noch im einen oder anderen Projekt mitgearbeitet, aber landete dann ja letztendlich in einer ganz anderen Ecke. Nichtsdestotrotz, das Handwerkszeug hat man sich draufgeschafft und eine Latte Basiswissen. Und nun das seltsame Phänomen: meine universitär/wissenschaftlichen Schwerpunkte waren pi mal Daumen
– Soziologie des Internets
– Didaktik neuer Medien
– Jugend- und Rassismusforschung

Meine Steckenpferde in der Wikipedia sind
– Pornografie
– Stanislaw Lem
– ein wenig Google- und Netzkram
– sowie gelegentliche „grade vor meiner Haustür“-Themen.

Was will mir das sagen, was kann man draus ableiten?
Zumindest mir persönlich scheint das „Werkeln mit dem Handwerkszeug“ attraktiver als das Fortsetzen der universitären Schwerpunkte. Übertragen und Anwenden dessen, was man gelernt hat, auf Felder, die sich später ergaben. Ich würd mich nicht auf den Wissenschaftsbetrieb allein beschränken wollen, wenn ich mir mehr Akteure bei besagter „Demokratisierung der Wissensorganisation“ wünsche.

Angesichts dessen, dass andere Unternehmungen mit dem Ziel, das Weltwissen zu organisieren, grade erstaunlich effizient die Zone mit LLM-Bullshit zu fluten helfen, scheint mir die teils mühselige Pflege einer kuratierten Quelle belegten Wissens im Übrigen durchaus wichtig. Mit irgendwas müssen wir ja weitermachen, wenn die Habsburg-KI das restliche Web vollends übernommen hat.

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