Ganz anderes Thema, es geht mir aber gelegentlich im Kopf rum und mein aktueller Ausflug in die alte Heimat ließen ein paar Gedanken etwas konkreter werden. Es geht im weitesten Sinn um Veränderungen in der Kultur, die Einflüsse, die zu diesen Veränderungen führen und um die Fragen, was vom Wandel als Verlust an Wissen und Kulturtechniken und was anders verstanden werden kann. Ich hab keine konkreten Antworten, aber ein paar sehr konkrete Beispiele.
Neckarschleife bei Kirchheim, Weinberge in Steillagen
Es war meist zum Thema Ausländerfeindlichkeit und „Überfremdung“, wenn ich meine Landeikeule rauskramte. Wenn sich wer beschwerte, dass das ja die „Kultur zerstöre“, dass das edle Deutschtum mit wahlweise Döner, Hiphop, McDonalds oder Minaretten angegriffen werde, dann erzählte ich, dass ich grade zwar eher einer technik- und medienlastigen Berufung nachgehe, aber eben aus einer Familie stamme, in der man vollkommen selbstverständlich mit der Nebenerwerbslandwirtschaft aufwuchs. Ich könnte bis heute einen Weinberg vom Winterschnitt bis zur Lese pflegen, ich habe noch Jahre nach dem Tod meines Vaters die Edelobstanlage gemacht, die damals für ihre fünf, sechs Tonnen Tafeläpfel und ungefähr nochmal so viel Mostobst gut war, da kann ich neben Ernte nur den Sommerschnitt, aber das bei fünfhundert Bäumen, das war auch regelmäßig ein Act. Ich kanns noch, aber ich weiss nicht, wie lang noch, weil sich das ausschleift. Denn ich bin irgendwann nach Bochum gegangen und da wars dann Sense mit den zwei Wochen, die man im Sommer, und den drei Wochen, die man im Herbst braucht, und der Weinberg ging schon zu Studizeiten nicht mehr, weil da kann (bzw. muss) man das ganze Jahr über was tun.
Kalksteinfelsen – Naturdenkmal Trauf, Neckarschleife Kirchheim
Das sind Kulturtechniken, die werde ich persönlich für mich vermutlich fürderhin unangewendet mit ins Grab nehmen. Untergehen werden sie nicht, da machen andere ja noch den Job, aber inzwischen praktisch ausschließlich hauptberuflich, mit schwerem Gerät und den günstigen Erntehelfern aus der EU-Osterweiterung, weil anders gehts nicht mehr. Aber eine der Sachen, die ich von Kind auf gelernt hab und die ich im wahrsten Sinne des Wortes als Kulturtechnik bezeichnen will, kann ich für meinen Teil nicht mehr anwenden. Zum einen, weil es sich nicht mehr lohnt und zum anderen, weil es eben auch nicht mehr geht, weil man dafür viel zu viel damit beschäftigt ist, flexibel zu sein (unnötig der Hinweis, dass mein Bruder zwischenrein auch in mehr oder minder großer Entfernung vom Geburtsort in Lohn und Brot stand und er klar eben auch dahinging, Stückchen hin, Weinberg her, weil anders gehts nicht.
Dass diese Kulturtechnik in unserer Familie keine Anwendung mehr findet und im Wortsinn Kultur und kulturelles Praxiswissen verlorengeht, da kann keine Dönerbude und kein Thailokal was für, das haben weder der Hiphop noch Ronald McDonald verbrochen, das ist schlichtes Resultat einer massiven Flexibilisierung des Arbeitslebens, das zur Normalität wurde und solche Nebenerwerbsmodelle nicht mehr zulässt. Abgesehen davon, dass man irgendwann tatsächlich nur noch dafür arbeitet, damit man abends müde ist, denn die Preise fürs Tafelobst fallen und die für Pflege und Bewirtschaftung steigen, und da muss man knapp kalkulieren, wenn man auch noch ein paar Euro sehen will für einige Wochen Knochenarbeit. Es geht nicht mehr, die Zeiten sind rum. Kultur geht verloren, als ganz normale Kapitalismus-Nebenwirkung und ohne jegliches Zutun durch angeblich „überfremdende“ Bevölkerungsgruppen.
Weinbergstaffel neben ungepflegtem Weinberg, Kirchheim
Wir spazierten heute den Neckar runter, und mehr oder weniger bei mir ums Eck sieht der tatsächlich so aus, man muss nichts bearbeiten und nichts mit den Superkameras HDR-technisch aufmotzen, es reicht, ein iPhone aus der Tasche zu ziehen und draufloszuknipsen, dann sieht das so hübsch aus. Hübsch im ästhetischen Sinn, denn einen der Weinberge, die man hier sieht, will ich nicht geschenkt haben, und das sage ich mit Vorwissen dahingehend, dass ich schon in einigen davon gearbeitet habe. Es ist anstrengend, es ist gefährlich, und wer mal mit einer größeren Menge Trauben auf dem Rücken eine dieser Staffeln rauf oder runter ist und das nicht zwei, dreimal, sondern etwas öfter, der weiß, was ich meine. Und zu guter Letzt: die wunderhübschen Trockenmauern, die neben der Bewirtschaftung und einem optimalen Mikroklima auch gut als Biotop nicht nur für hier fotografiertes Kleinvieh sind, haben eine dumme Angewohnheit: sie kommen gelegentlich runter. Das sieht dann wie auch hier abgebildet aus. Weiterlesen →